Erinnerst Du Dich an das erste Mal, dass Du auf einer Bühne gespielt hast? Hattest Du da auch keine Angst?
Ich glaube, da war ich so vier oder fünf. Ich hatte gerade begonnen, in Gruppenunterricht zu gehen. In einer ganz bestimmten Gruppe wollte ich aber nicht auf die Bühne, das war nämlich wirklich eine Bühne, nicht nur irgendein Raum. Ich schwankte die ganze Zeit hin und her: „Oh, das will ich machen, aber irgendwie auch nicht! Ich will’s machen, ich will’s nicht machen, ich weiß es nicht…”
Dann hat mein Dad vorgeschlagen, dass ich hinter die Bühne gehe und von dort spiele. Das hab ich dann auch gemacht. Und in der nächsten Woche war es für mich völlig okay, auf die Bühne zu gehen. Kurze Zeit später war ich sogar schon richtig enttäuscht, wenn der Lehrer mich nicht zu einem Solo aufgefordert hat.
Möglicherweise war das wie so eine Art Schutzwall: Du warst von negativem Feedback abgeschirmt…
Richtig. Außerdem gibt es, wenn Du als Kind übst, immer jemanden, der Dich unterbricht und ermahnt: “Nein, spiel das nochmal, aber diesmal richtig!” Der Witz war also, dass ich genau wusste: Sobald ich auf die Bühne gehe, wird mich niemand mehr unterbrechen. Juhuuu! (lacht)
Und das Gefühl hast Du Dir bewahrt?
Heutzutage wird mich auf der Bühne hoffentlich niemand mehr unterbrechen (lacht). Aber das stimmt schon: Dieses angenehme Gefühl kenne ich noch immer.
Wenn Du auf der Bühne wirklich Angst hättest, könntest Du Dich wahrscheinlich gar nicht konzentrieren oder Dich in die Musik hineinfühlen, weil Du abgelenkt wärst…
Da bin ich mir nicht so sicher. Ich kenne Musiker, die schon seit langem trotz schrecklicher Angst sehr erfolgreich auftreten! Bevor sie auf die Bühne gehen, müssen sie sich erstmal übergeben. Da frag ich mich echt, wie Du das auf die Dauer durchhältst.
Du sagst diesem Teil Deines Körpers:
„Okay, und jetzt entspann‘ Dich!“
Aber die lieben die Musik nun einmal so sehr, dass sie das alles in Kauf nehmen. Und Du siehst es oder hörst es ihnen in keiner Weise an. Ich denke, Lampenfieber muss nicht unbedingt heißen, dass Du ein schlechter Performer bist. Es geht darum zu lernen, damit umzugehen und es zu akzeptieren.
Bei meiner Arbeit mit jungen Tennis- und Golfprofis stelle ich immer wieder fest, dass ihre Muskeln fest werden und sie ihre Feinmotorik verlieren, sobald sie irgendwie Angst verspüren…
Beim Geigenspielen, wenn alle Bewegungen unglaublich schnell sind und Du sehr aufgeregt bist, kann es Dir passieren, dass Du anfängst zu zittern. Wenn das passiert, ist das so, als würden zwei Muskelgruppen gegeneinander kämpfen. Dann musst Du eine davon aus dem Kampf rausziehen. Dafür musst Du dem entsprechenden Teil Deines Körpers sagen: „Okay, und jetzt entspann‘ Dich!“
Das klingt ein wenig nach Selbsthypnose…
Ich glaube nicht, dass das etwas mit Hypnose zu tun hat. Es ist ganz einfach eine Methode, mit dem Problem umzugehen. Eine Lösung. Vielleicht ist es ein ganz starker Glaube daran, dass Du etwas ändern kannst. Wenn es passiert, weißt Du, was zu tun ist. Dann machst Du Dir keine Gedanken mehr darüber, dass es passieren könnte. Du verursachst es nicht dadurch, dass Du Angst davor hast. Aber das musst Du schon vorher ausgiebig geübt haben, damit Dein Kopf dazu in der Lage ist, so zu reagieren.
Wenn Du mich fragst, ist Üben ohnehin der Generalschlüssel zu mentaler Stärke. Die meisten Mentaltechniken kann man recht schnell lernen – solange Du sie wieder und wieder einübst. Irgendwann hat Dein Gehirn die Technik verinnerlicht…
Absolut richtig! Am heutigen Punkt meiner Karriere weiß ich einfach, wie man Geige spielt und an der Musik arbeitet. Wenn ich also versuche, mich daran zu erinnern, dann geht das ziemlich fix. Ich kann mich daher inzwischen mehr darauf konzentrieren, das zu lernen, was wirklich neu für mich ist: Die wenigen technischen oder musikalischen Dinge, die ich jede Woche ein wenig verbessern möchte.
Auf der Bühne wirkst Du immer extrem selbstbewusst. Täuscht der Eindruck?
Weiß ich nicht. Auf der Bühne ist alles gleichzeitig sehr langsam und sehr schnell. Als hätte man einen meditativen Zustand mit einem hyper-bewussten Zustand kombiniert.
In dieser Zeit passiert eine ganze Menge in meinem Kopf, und dennoch gibt es da kein Chaos. Die musikalischen Emotionen – klar. Aber keine großartigen Konflikte, ich habe da also nicht viel zu kämpfen. Es fühlt sich für mich eher so an, als würde ich von allen Leuten um mich herum Richtungsvorschläge bekommen und denen dann einfach nachgehen.
Das machst Du aber nicht bewusst…
Nein. Vielleicht wirke ich sehr kalkulierend. Das kommt aber nur daher, dass ich auf der Bühne so viel nachdenke. Das sind meine kreativsten Momente, und meine spontansten. Stell Dir vor: Du kannst die ganzen Größenverhältnisse in der Musik auf den Kopf stellen, und überall gibt es diese ganz unterschiedlichen Energien! Wenn Du nicht gerade dauernd inmitten von zweitausend Leuten stehst, die sich alle auf etwas konzentrieren, von dem Du ein Teil bist, wirst Du das wahrscheinlich sonst nicht so ohne weiteres erleben.
Ich versuche dauernd zu analysieren, was den Unterschied ausmacht zwischen extrem erfolgreichen Menschen und solchen, die das nicht sind. Hast Du eine Idee?
Beharrlichkeit vielleicht. Du kannst bei allem, was Du tust, entmutigt werden. Nichts fliegt einem dauernd zu. Aber Du kannst immer dahin kommen, wo Du hinwillst! Manchmal ist der Weg einfach länger als sonst. Ich denke, es ist eigentlich durchaus hilfreich, wenn es Hürden auf Deinem Weg gibt, die Du erst überwinden musst. Ich meine jetzt keine riesigen Lebenskrisen, die braucht kein Mensch.
Was erfolgreiche Menschen von anderen unterscheidet?
Vielleicht Beharrlichkeit.
Aber ich glaube, es ist gut, ab und zu auch mal frustriert zu sein. Das Gefühl zu haben, als ob Du bestimmte Sachen einfach nicht auf die Reihe bekommst, obwohl Du ständig daran arbeitest. Denn je mehr Zeit Du darin investierst, eine Lösung zu finden, desto besser weißt Du beim nächsten Mal, wie Du vorgehen musst. Ich glaube ganz fest daran, dass Du dann, wenn Du am frustriertesten bist, den größten Fortschritt machst. Möglicherweise ist das so eine Art Überlebensautomatismus.
Damit wären wir an dem Punkt, wo wir über das Thema “Motivation” sprechen müssen. Denn was Du da beschreibst, ist ja ein Teilaspekt davon.
Gewissermaßen. Es geht aber auch um Ausdauer.
Aber Du kannst keine Ausdauer an den Tag legen, wenn Du nicht irgendwie motiviert bist. Wie gehst Du heutzutage mit Zielen um?
Ich habe keine Ziele.
Überhaupt keine?
Nein, wirklich nicht! Also, irgendwo ist natürlich jedes Konzert ein Ziel. Ich bin ganz allein für meine Leistung auf der Bühne verantwortlich. Das ist so eine Art „Deadline-Motivation“.
Wie meinst Du das?
Nun ja, es ist ein ziemlich blödes Gefühl, einen Auftritt zu ruinieren, nur weil man die Musik einfach nicht vermitteln kann, oder weil man sich unvorbereitet anhört. Oder weil man das Publikum vom musikalischen Inhalt ablenkt, indem man da oben mit irgendetwas kämpft. Fühlt sich schrecklich an, so etwas.
5 Comments
Ein sehr schön und offen geführtes Interview Harald.
Kompliment! Und Hilary Hahn wie man sieht, nicht nur eine klasse Geigerin, sondern auch eine bezaubernde Erscheinung.
Weiter viel Erfolg.
Grüße, Nunzio
Vielen Dank, Nunzio, das freut mich sehr!
Sehr schönes und aufschlussreiches Interview.
Und du hast dir damit auch noch einen persönlichen Traum verwirklicht. Cool! 🙂
Grüsse aus der Schweiz, Thomas
Dankeschön, Tomaso. Ja, die Liste der Wunsch-Interviewpartner ist zwar immer noch lang, aber das war schon ein Highlight.
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